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Warum wir nicht aus der Ukraine geflohen sind

Artikel von Vasyl Ostryi  — 5 Min Lesedauer

In den letzten Tagen sind für uns in der Ukraine die Ereignisse aus dem Buch Esther Wirklichkeit geworden. Es fühlt sich an, als wäre der Erlass unterzeichnet und Haman habe die Erlaubnis, eine ganze Nation zu vernichten. Die Galgen stehen bereit. Die Ukraine wartet nur noch die Hinrichtung ab.

Kannst du dir die Stimmung in einer Gesellschaft vorstellen, wenn monatelang Tag für Tag in den Medien auf der ganzen Welt gesagt wird, dass der Krieg unvermeidbar ist? Dass viel Blut fließen wird?

In den vergangenen Wochen sind fast alle Missionare angewiesen worden, die Ukraine zu verlassen. Westliche Nationen haben ihre Botschaften evakuiert und ihre Bürger außer Landes gebracht. Es gibt keinen Straßenverkehr in Kiew. Wo sind die Leute hin? Oligarchen, Geschäftsleute, und alle, die es sich leisten können, gehen weg und retten ihre Familien vor dem drohenden Krieg. Sollen wir dasselbe tun?

Wir bleiben, um zu helfen

Meine Frau und ich haben uns entschieden, hier zu bleiben, in einer Stadt in der Nähe von Kiew. Gemeinsam mit der Bibelgemeinde Irpin, in der ich seit 2016 Teil des Pastorenteams bin, wollen wir den Menschen hier dienen. In Erwartung der auf uns zukommenden Katastrophe haben wir Vorräte angelegt (Nahrung, Medikamente und Treibstoff), um notfalls in der Lage zu sein, die Hilfsbedürftigen zu unterstützen, anstatt ihnen zur Last zu fallen.

Wir sind eine sechsköpfige Familie. Wir haben vier Töchter. Die Grenze zu Weißrussland ist nur 150 Kilometer von Kiew entfernt. Daher ist das eine der Stoßrichtungen des feindlichen Angriffs. Die lokalen Medien empfehlen, einen Notkoffer zu packen. Ich habe meinen Kindern gesagt: „Packt eure Rucksäcke. Packt genug Sachen für drei Tage.“

In der Vergangenheit bedeutete ein solches Packen, dass wir irgendwo in den Urlaub fuhren, oder einen Ausflug machten. Unsere jüngeren Kinder (sechs und acht Jahre alt) haben deshalb gefragt: „Papa, wohin gehen wir?“ Zuerst wusste ich nicht, was ich antworten sollte. Ich sagte ihnen, dass wir nirgendwo hingehen.

Gemeinde in Krisenzeiten

Wie soll die Gemeinde reagieren, wenn Kriegsgefahr droht? Wenn es in der Gesellschaft ständige Angst gibt? Ich bin überzeugt, dass die Gemeinde in Friedenszeiten keine Relevanz haben wird, wenn sie in Krisenzeiten nicht von Bedeutung ist.

Als Land haben wir das im Jahr 2014 bereits durchgemacht. Damals haben viele Gemeinden diejenigen aktiv unterstützt, die gegen das korrupte und autoritäre Regime von Viktor Janukowitsch rebellierten. Auf dem Unabhängigkeitsplatz gab es ein Gebetszelt. Christen verteilten warme Mahlzeiten und heißen Tee. Gemeinden öffneten ihre Türen als Rückzugsort für Demonstranten, die von den Sicherheitskräften verfolgt wurden.

Gleichzeitig gab es Gemeinden, die das Regime des Diktators offen unterstützten und die Demonstranten kritisierten. Andere Gemeinden versuchten, den Elefanten im Raum zu ignorieren. Sie sprachen nicht über das Problem und lebten weiter, als wäre nichts geschehen.

Schließlich verloren sowohl Gemeinden, die sich bei sozialethischen Fragen zurückhielten, als auch solche, die korrupte Machthaber unterstützten, in der Bevölkerung der Ukraine an Ansehen. Im Gegensatz dazu genossen Gemeinden, die den Menschen in Zeiten der Not zur Seite standen, höchstes Vertrauen in der Gesellschaft.

Unser Kampf für die Nation

Wir glauben, dass die Gemeinde ein Ort geistlicher Kämpfe ist. Als die Spannungen zunahmen, kündigte unsere Gemeinde eine Woche des Fastens und Betens an. Wir versammelten uns jeden Abend, um unsere Bitten vor Gott zu bringen. Drei Tage hintereinander wurde in der Stadt der Strom abgeschaltet. Wir waren gezwungen, uns im Dunkeln zu versammeln, was unseren Gebeten um Frieden eine feierliche Atmosphäre verlieh.

Am Ende der Woche haben diese Momente in uns eine innere Kraft zum Ausharren hervorgebracht. Durch das gemeinschaftliche Gebet haben wir Zuversicht und Frieden erlangt. Wir glauben, dass Gott bei uns ist – und das ist das allerwichtigste.

In dieser kritischen Zeit ist unsere Gemeinde, die an einem normalen Sonntag von etwa 1000 Menschen besucht wird, ein Ort zum Dienen geworden. Wir haben vor kurzem einige Erste-Hilfe-Kurse durchgeführt. Menschen lernen, wie sie einen Druckverband anlegen, Blutungen stoppen, Verbände anbringen und Menschen in die stabile Seitenlage bringen können. Es sind Laien, keine Ärzte, aber es ermutigt sie, sich in der Not um ihre Mitmenschen zu kümmern.

Nach meiner Ankündigung des Erste-Hilfe-Trainings hat mir ein Bruder tatsächlich Folgendes gesagt: „Jetzt weiß ich, warum ich in der Ukraine bleiben muss.“ Er hatte geplant, das Land zu verlassen. Er wusste, dass er kein Soldat ist. Er kann nicht zur Waffe greifen und kämpfen. Aber jetzt will er bleiben, den Verwundeten helfen und Leben retten.

Wir können die Räumlichkeiten der Gemeinde in eine Unterkunft umwandeln. Wir sind dabei, eine Heizstation einzurichten und bieten auch Platz für ein Militärkrankenhaus. Dazu bilden wir Einsatzteams. Wir stehen mit einem Angebot an Treibstoff, Nahrung und Verbandsmaterial bereit. Wir haben sogar Informationen darüber gesammelt, wer in der Gemeinde Arzt, Mechaniker oder Klempner ist. Für den Fall einer Trinkwasserknappheit haben wir eine Liste von Mitgliedern, die Brunnen haben.

Bleiben und beten

Wir haben entschieden, hier zu bleiben. Als Familie und als Gemeinde. Wenn das alles hier vorbei ist, werden die Bürger Kiews sich daran erinnern, wie Christen auf ihre Zeit der Not reagiert haben.

Und auch wenn die Gemeinde vielleicht nicht auf dieselbe Weise kämpft wie die Nation: Wir glauben trotzdem, dass wir in dieser Auseinandersetzung eine Rolle spielen müssen. Wir werden den Schwachen Unterkunft geben, den Leidenden dienen und die gebrochenen Herzen trösten. Und während wir das tun, bieten wir jedem die unerschütterliche Hoffnung Christi und seines Evangeliums an. Wir fühlen uns angesichts einer solchen Krise vielleicht hilflos, aber wir können beten wie Esther. Die Ukraine ist nicht Gottes Bundesvolk, aber unsere Hoffnung ist wie Israels Hoffnung – dass der Herr die Gefahr abwendet, wie er es für sein Volk damals getan hat. Und da wir bleiben, beten wir, dass wir als Gemeinde in der Ukraine treu auf den Herrn vertrauen und unseren Nächsten dienen.


Vasyl Ostryi ist Pastor der Bibelgemeinde Irpin und Professor für Jugendarbeit am Kiew Theological Seminary.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Evangelium21. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.