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Online ist keine Alternative

Artikel von Jonathan Leeman
6 Min Lesedauer

Die Corona-Pandemie war für Gemeinden auf der ganzen Welt eine Herausforderung, weil Christen an so vielen Orten Schwierigkeiten damit hatten, sich zu versammeln und am Wort Gottes zu erfreuen. Nachdem wir uns in der Anfangszeit von Corona einige Monate lang nicht hatten versammeln können, fühlte ich mich, als würde ich den Überblick über meine Gemeinde verlieren. Meine Freunde fragten mich: „Wie läuft es so in deiner Gemeinde?“ Mir fiel es schwer, eine Antwort zu finden. Ich hatte regelmäßig Telefonate und schrieb einzelnen Mitgliedern, aber den gesamten Leib konnte ich nicht fassen. Die Gemeinde fühlte sich an wie Regenwasser auf einem Parkplatz nach einem Gewitter – ausgedünnt, verteilt, hier und da ein paar Pfützen.

Die Ältesten sorgten sich am meisten um geistlich schwache Mitglieder, die Glaubenszweifel hatten oder mit bestimmten Versuchungen kämpften. Wir sorgten uns um die, die vorher schon geistlich abzudriften schienen und, Monate bevor sie komplett herausgezwungen wurden, schon einen Fuß aus der Tür hatten.

Sich nicht zu versammeln, traf aber alle – die im Glauben Starken und Schwachen gleichermaßen. Jeder von uns muss seine Mitchristen regelmäßig sehen und hören. Sonst sind es nur die Verhaltensmuster von Arbeitskollegen, Schulfreunden oder Fernsehfiguren, die wir mitbekommen.

Was entgeht uns?

Am Anfang der Pandemie boten viele Gemeinden einen Livestream ihres Gottesdienstes an und Stimmen wurden laut, die den nachhaltigen Wert der „Online-Gemeinde“ anpriesen. Pastoren, die sich früher dagegen ausgesprochen hatten, gründeten reine „Online-Gemeinden“ und stellten dort Pastoren in Vollzeit an. Sie versprachen, diese Gemeinden auf unbestimmte Zeit beizubehalten. Dieses Phänomen ist vor allem in den USA verbreitet und schwappt auch nach Europa herüber. Einige bezeichneten es als spannende Entwicklung in der Erfüllung des Missionsbefehls.

Und doch bleibt die Frage: Was entgeht uns, wenn unsere Erfahrung von „Gemeinde“ lediglich aus einem wöchentlichen Livestream besteht? Erst einmal denkt man weniger an die anderen Mitglieder. Sie kommen einem gar nicht in den Sinn. Man läuft ihnen nicht über den Weg, das nette „Hallo“, das zu längeren und tieferen Gesprächen bei einem gemeinsamen Essen führt, fällt weg. Außerdem entzieht man sich der Ermutigung, Rechenschaft und Liebe.

„Das christliche Leben und das Gemeindeleben können nicht heruntergeladen werden. Sie müssen gesehen, gehört, miterlebt und mitgemacht werden.“

Wir sind dankbar, dass wir biblische Wahrheiten aus dem Internet herunterladen können. Aber lasst uns Gott auch preisen, dass das christliche Leben mehr ist als reine Informationsvermittlung. Wenn Gemeinde nur online ist, können wir nicht fühlen, erleben und bezeugen, wie diese Wahrheiten durch die Familie Gottes verkörpert werden, was sowohl unseren Glauben stärkt als auch ein Band der Liebe zwischen uns und unseren Geschwistern schafft. „Online-Gemeinde“ ist ein Oxymoron, also eine Zusammenstellung zweier sich widersprechender Begriffe.

Chaotische Segnungen

Denk mal darüber nach. Vielleicht hegst du die Woche über heimlich Groll gegen einen Bruder. Aber dann sitzt ihr gemeinsam am Tisch des Herrn und du wirst überführt von deiner Sünde und bekennst sie. Du ringst mit deinem Misstrauen gegenüber einer Schwester. Aber zu sehen, wie sie die Loblieder mitsingt, erwärmt dein Herz. Du fürchtest dich vor der politischen Entwicklung in deinem Land. Aber dann verkündet der Prediger die siegreiche Wiederkunft Christi, du hörst, wie um dich herum „Amen!“ gerufen wird und erinnerst dich, dass du Himmelsbürger bist und Teil eines in Hoffnung verbündeten Volkes. Du bist versucht, deine Kämpfe geheim zu halten. Aber dann fragt dich das ältere Ehepaar freundlich, aber bestimmt: „Wie geht es dir wirklich?“ – und hilft dir, deine Probleme ans Licht zu bringen.

All das kann man nicht online erleben. Gott hat uns als körperliche, beziehungsorientierte Wesen erschaffen. Letztendlich können das christliche Leben und das Gemeindeleben nicht heruntergeladen werden. Sie müssen gesehen, gehört, miterlebt und mitgemacht werden. Timotheus sollte auf sich selbst und seine Lehre achthaben, da beides entscheidend war, sowohl für sein Heil als auch für das seiner Zuhörer (vgl. 1Tim 4,16).

Es ist nicht verwunderlich, dass die Online-Gemeinde immer beliebter wird. Sie ist bequem und – ehrlich gestanden – ermöglicht sie es, schwierigen Mitmenschen aus dem Weg zu gehen. Ich verstehe das, es ist eine große Versuchung.

Als ich noch Single war, zog ich in eine neue Stadt. Ich hatte keine Gemeinde und kannte niemanden. Ein paar Tage nach meiner Ankunft kam mir plötzlich ein Gedanke in den Sinn: „Ich kann ausgehen und machen, was immer ich will. Niemand wird es mitbekommen oder mich danach fragen. Das ist irgendwie schön.“ Ich bin dankbar für die sofortige Zurechtweisung durch den Heiligen Geist: „Du weißt, woher dieser Gedanke kommt. Nein, das ist kein Impuls, dem du folgen solltest.“

Welch eine Gnade! Ich bin dankbar, dass der Heilige Geist an jenem Tag mein Herz prüfte. Aber versteh mich nicht falsch: In aller Regel möchte er Brüder und Schwestern in der Gemeinde gebrauchen, um uns im Kampf gegen Dummheiten und Versuchung beizustehen.

Ja, sich als Gemeinde zu versammeln kann unbequem sein, aber das ist Liebe auch. Zwischenmenschliche Beziehungen sind kompliziert, aber Liebe auch. Vertrauliche Gespräche sind beängstigend, aber Liebe auch.

Wir sind nicht unabhängig

Wir fürchten, dass die Entwicklung in Richtung Online-Gemeinde auch eine Entwicklung hin zu einem individualistischen Christsein bedeutet. In Notsituationen (wie etwa einer Pandemie) mag es angebracht sein, auf solche Mittel zurückzugreifen. Viele Gemeinden konnten sich während des Zweiten Weltkriegs sonntagabends nicht treffen, weil die Regierung als Maßnahme des Luftschutzes eine Verdunkelung angeordnet hatte. Das ist in Ordnung.

„Wir müssen einen Weg finden, unsere Gemeindeglieder auf sanfte Weise daran zu erinnern, dass die Livestream-Option nicht gut für sie ist. Sie schadet ihrer Jüngerschaft und ihrem Glauben“

Aber die Online-Gemeinde als dauerhafte Lösung vorzuschlagen oder voranzutreiben (wenn auch gut gemeint), schadet christlicher Jüngerschaft. Es bringt Christen dazu, ihr Glaubensleben als selbstbestimmt zu betrachten. Es vermittelt den Eindruck, sie könnten Jesus als Teil der „Familie Gottes“ im abstrakten Sinne nachfolgen – ohne ihnen beizubringen was es bedeutet, Teil einer Familie zu sein und Opfer für eine Familie zu bringen.

Pastoren sollten Menschen also ermutigen, so gut es geht auf die virtuelle „Teilnahme“ an Gottesdiensten zu verzichten. Wir müssen einen Weg finden, unsere Gemeindeglieder auf sanfte Weise daran zu erinnern, dass die Livestream-Option nicht gut für sie ist. Sie schadet ihrer Jüngerschaft und ihrem Glauben. Wir möchten, dass ihnen das klar ist, damit sie nicht bequem werden und aufhören zu den Versammlungen zu kommen, auch wenn es ihnen möglich ist.

Der biblische Befehl zur Versammlung möchte uns keine Last aufbürden (vgl. Hebr 10,25; 1Joh 5,3), sondern dient unserem Glauben, unserer Liebe und unserer Freude.


Jonathan Leeman ist der Redaktionsleiter von 9Marks. Er ist Herausgeber der 9Marks Buchreihe sowie des 9Marks Journal. Jonathan lebt mit seiner Frau und seinen vier Töchtern in einem Vorort von Washington DC (USA) und ist Ältester der Cheverly Baptist Church.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Evangelium21. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.

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