Ein Artikel von R.C. Sproul
Wenn du das nächste Mal ein Gebetstreffen besuchst, pass genau auf, wie die einzelnen Leute Gott ansprechen. Sehr wahrscheinlich wird die Anredeform in etwa so sein: „Unser lieber himmlischer Vater“, „Vater“, „Unser Gott und Vater“ oder ein anderer Bezug auf Gott als Vater. Nicht jeder redet Gott zu Beginn des Gebets mit dem Titel „Vater“ an. Aber der Gebrauch des Begriffs Vater als Ansprache für Gott wird von betenden Menschen überwiegend bevorzugt. Was hat das zu bedeuten? Es scheint, dass die Unterweisung unseres Herrn, die er uns im „Vaterunser“ gegeben hat, unserer Neigung nachempfunden ist, Gott als Vater anzureden. Seitdem Jesus sagte: „Wenn ihr betet, sprecht, ‚Unser Vater‘“, ist diese Anredeform praktisch zum Standard für das christliche Gebet geworden. Weil diese Form des Gebets so oft gebraucht wird, nehmen wir seine erstaunliche Bedeutung oft für gegeben an.
Der deutsche Gelehrte Joachim Jeremias hat argumentiert, dass Jesus in fast jedem Gebet, das er im Neuen Testament spricht, Gott als Vater anredet. Jeremias merkt an, dass das eine radikale Abweichung von jüdischem Brauch und Tradition bedeutet. Obwohl dem jüdischen Volk eine große Zahl angemessener Titel für Gott im persönlichen Gebet gegeben wurde, fehlte der Titel „Vater“ in dieser erlaubten Liste. Die Juden gebrauchten zwar den Begriff „Vater“ indirekt, indem sie Gott als Vater des Volks anredeten, aber niemals als direkte Anrede, bei der ein Mensch Gott persönlich als „Vater“ bezeichnet. Jeremias merkt auch an, dass die ernsthafte Reaktion auf Jesus von Seiten seiner Zeitgenossen darauf hinweist, dass sie aus seiner Anrede Gottes als Vater eine blasphemische Äußerung heraushörten. Durch diese Anrede würde Jesus eine bestimmte Gleichheit mit dem Vater unterstellen. Jeremias argumentiert ferner, dass es bis zum 10. Jahrhundert nach Christus in Italien keinen Bericht von irgendeinem Juden gibt, der Gott direkt als Vater anredet, mit der bemerkenswerten Ausnahme von Jesus. Obwohl die Ergebnisse von Jeremias von manchen hinterfragt wurden, bleibt es ausgemacht, dass der Gebrauch des Begriffs „Vater“ durch Jesus in einem persönlichen Gebet eine außergewöhnliche Sache war.
Seitdem die Vergleichende Religionswissenschaft im 19. Jahrhundert ihren Zenit erreicht und liberale Theologen versucht haben, das Wesen jeder Religion auf die universelle Vaterschaft Gottes und die universelle Bruderschaft der Menschen zu reduzieren, wird durch diese liberalen Annahmen davon ausgegangen, dass Gott als Vater zu erachten die grundlegende Lehre jeder Religion sei. Wenn wir uns jedoch anschauen, wie der Begriff im Neuen Testament und in der Lehre der Apostel gebraucht wird, sehen wir, dass es in der Bibel keine Lehre der universellen Vaterschaft Gottes gibt. Ausgenommen seine Rolle als Schöpfer aller Menschen. Stattdessen bezieht sich die Vaterschaft Gottes hauptsächlich auf eine begrenzte Vater-Sohn-Beziehung.
„Indem Gott uns adoptiert, sagt er, dass wir ihn jetzt nicht nur als den Vater Jesu, sondern auch als unseren Vater erachten können.“
Im ersten und wichtigsten Fall hat Gott nur ein Kind, seinen eingeborenen Sohn, den monogenēs, was die Vater-Sohn-Beziehung auf Christus beschränkt. Wir haben nicht das natürliche Recht, Gott „Vater“ zu nennen. Dieses Recht wird uns nur durch Gottes gnädiges Werk der Adoption gewährt. Es ist ein außergewöhnliches Privileg, dass die, die in Christus sind, nun das Recht haben, Gott mit einem solch persönlichen, intimen Begriff wie „Vater“ anzureden. Deshalb sollten wir dieses unaussprechliche Privileg, das uns durch Gottes Gnade zuteil wurde, niemals als selbstverständlich hinnehmen. Wenn wir jetzt beten, dann sollen wir Gott als „unseren Vater“ anreden. Das lehrt Jesus uns im Vaterunser. Das Gemeinschaftliche dieser Beziehung ist gegründet auf den einzigartigen Dienst von Jesus, durch den er mittels Adoption unser älterer Bruder ist und uns die Privilegien gibt, die von Natur aus nur ihm gehören. Indem er uns adoptiert, sagt er, dass wir Gott jetzt nicht nur als seinen Vater, sondern auch als unseren Vater erachten können.
Die erste Bitte des Vaterunsers finden wir in den Worten: „geheiligt werde dein Name“. Die Eröffnungsanrede, „unser Vater, der du bist im Himmel“, ist einfach nur eine Anrede. Mit dieser Anrede beginnend lehrt Jesus seinen Jünger, bestimmte Bitten im Gebet zu äußern. Die erste und wichtigste dieser Bitten ist die, dass Gottes Name geheiligt werde. Das ist auch außergewöhnlich, denn im weiteren Verlauf des Gebets bitten wir, dass Gottes Willen auf Erden geschehe wie im Himmel und sein Reich auf Erden komme wie im Himmel. Beide Verlangen können jedoch nur erfüllt werden, wenn der Gott des Himmels und der Erde mit höchster Ehrfurcht und Anbetung behandelt wird. Wenn wir das dritte Gebot nicht einhalten und Gott nicht als Gott ehren, seinen Namen als Schimpfwort gebrauchen oder auf eine leichtfertige Art und Weise, dann erfüllen wir nicht diese erste Bitte. Es ist vielleicht nichts verbreiteter in unserer Kultur als der Ausdruck, der den Menschen zu vielen Anlässen über die Lippen kommt: „O Gott“. Dieser sorglose Bezug auf Gott zeigt, wie weit unsere Kultur davon entfernt ist, die Bitte des Vaterunsers zu erfüllen. Es sollte eine Priorität für die Kirche und jeden einzelnen Christen sein, sicherzustellen, dass die Art und Weise, wie wir von Gott reden, Respekt, Ehrfurcht und Anbetung kommuniziert. Wie wir den Namen Gottes gebrauchen, offenbart deutlicher als jedes Glaubensbekenntnis, das wir jemals sprechen können, unsere tiefste Einstellung in Bezug auf den Gott dieses geheiligten Namens.
R.C. Sproul (1939 – 2017) war Pastor und Professor für Systematische Theologie.
Er ist Gründer von Ligonier und Autor zahlreicher Bücher und Filme.
Dieser Beitrag erschien zuerst bei Evangelium21. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.