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Warum finde ich in der Gemeinde keine Freunde?

Wie das Evangelium unseren Blick auf Freundschaft prägt

Artikel von Andreas Dück — 12 Min Lesedauer

Den ersten Entwurf eines Artikels über Freundschaften in der Gemeinde schrieb ich 2010. Wir waren damals eine Gemeinde mit ca. 80 Mitgliedern – die meisten zwischen 20 und 40 Jahre alt. Ich nahm wahr, dass nicht gelingende Freundschaften immer wieder zu Reibungen und Konflikten führten. Als ich meinen Artikel einigen Testlesern zuschickte, bewogen ihre Rückmeldungen mich dazu, ihn nicht zu veröffentlichen. Es war ein zu heißes Eisen. Mein Entwurf schien nicht geeignet zu sein, das Thema in rechter Weise anzupacken. Die Sehnsucht nach Freundschaften ist tief im Herzen verankert und ähnlich wie die Sehnsucht nach ehelicher Partnerschaft mit vielen Erwartungen beladen.

Dabei scheint die Gemeinde der ideale Ort für Freundschaften zu sein. Das Liebesgebot, die Anweisung, den anderen höher zu achten als sich selbst, die Aufforderung zur Vergebung, das Vorbild der Selbstaufgabe und die Voraussetzung eines bekehrten Herzens sind doch ideale Voraussetzungen für neue tiefe, persönliche und erfüllende Freundschaften. Wenn Grenzen der Kultur, des Alters, der Herkunft und der sozialen Schichten fallen, dann müssten aus zugewucherten Trampelpfaden des Miteinanders doch recht schnell breite Autobahnen von Herz zu Herz entstehen.

Stattdessen wird aus der Hoffnung auf Freundschaft zu oft eine Erfahrung der Einsamkeit. Nicht selten verlassen Menschen die Gemeinde mit dem Urteil, dort von Heuchlern umgeben zu sein – oder bestenfalls von Menschen, die von einem hohen Anspruch der Liebe sprechen, aber den Einsamen nicht beachten. In der Gemeinde bleiben ein betretenes Schweigen und der Eindruck zurück, den Menschen nicht gerecht geworden zu sein. Kann es denn so schwer sein, in einer christlichen Gemeinde Freunde zu finden?

Wenn ich dir gerade aus dem Herzen gesprochen habe, dann erlaube mir, drei Gedanken mitzuteilen, die sich mit diesem Dilemma beschäftigen, sowie drei Anregungen, wie du einen neuen Zugang zum Thema finden kannst.

Warum es mit neuen Freundschaften schwieriger ist, als man hofft

1. Unsere Definitionen von Freundschaft sind unterschiedlich
Was macht einen Freund aus? Hier begegnen wir bereits der ersten Herausforderung. Wenn ich mit Bekannten (oder sind es Freunde?) aus der südlichen Hemisphäre spreche, bin ich immer wieder verwundert, wie schnell ich „ein Freund“ für sie bin. Die Schwelle von einem flüchtigen Bekannten zu einem Freund scheint in südländischen Kulturen sehr niedrig zu sein. Für uns im Westen hat Freundschaft jedoch etwas sehr Persönliches, Nahes, Intimes. Dadurch ist die Anforderung an Freundschaften oft eigenartig. Ist denn nicht klar, was Freundschaft ist? Nein, ist es nicht – zumindest meiner Erfahrung nach nicht. Es ist oft schwer zu erraten, was mein Gegenüber unter echter Freundschaft versteht und was diese Person erwartet. Geht es nicht einfach um echtes Zuhören und darum, gemeinsam Zeit zu verbringen? Ums Dasein und darum, mich so anzunehmen, wie ich bin? Ja und nein, denn dies sind in Wahrheit Allgemeinplätze einer viel spezielleren Vorstellung über Freundschaft, die man gerade nicht genauer formulieren kann. Die Wirklichkeit zeigt, dass es komplizierter ist.

Nach „Freundschaft“ in der Bibel zu suchen, hilft auch nur bedingt weiter. Während wir in den Weisheitsbüchern des Alten Testaments gute Hinweise für Freundschaften finden (vgl. Spr 18,24, Ps 55,12–13 und einige mehr) ist der Befund im Neuen Testament eher spärlich. Einer der bekanntesten Verse steht im Johannesevangelium. Dort sagt Jesus zu seinen Jüngern: „Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was immer ich euch gebiete“ (Joh 15,14). Nun, ich würde gern eine Freundschaft zwischen zwei Menschen kennenlernen, die nach dieser Regel aufgebaut ist! Für die Beziehung zwischen Jesus und den Jüngern trifft sie zu, aber zu unserem Freundschaftsverständnis passt sie gar nicht. Ein Gang durch die Bibel zeigt: Es gibt sehr wohl Aussagen über Freundschaft, aber insgesamt bekommt das Thema viel weniger Beachtung als in unserer Gedankenwelt. Vielleicht können wir zunächst einmal schlicht festhalten, dass die sehr speziellen und unterschiedlichen Vorstellungen von „Freundschaft“ eine Herausforderung für Beziehungen darstellen.

2. Jeder Mensch ist in seinen Beziehungen begrenzt
In unserer Zeit der ungezählten Studien gibt es natürlich auch Untersuchungen zu Beziehungen. In der Forschung geht man davon aus, dass ein Mensch sich 5000 Gesichter merken und ungefähr 1500 Menschen kennen kann. Zu 150 von ihnen haben wir soziale Kontakte, 50 würden wir zu runden Geburtstagen einladen, 12 bezeichnen wir als Freunde und 2–3 von ihnen zählen wir zu unseren engsten Freunden, mit denen wir unsere Wünsche, Ängste und Träume teilen. Ab dem 23. Lebensjahr sinkt die Zahl der Freunde kontinuierlich.1Dies sind natürlich Durchschnittswerte, und sicher gibt es Studien mit abweichenden Ergebnissen. Die Beobachtung an sich scheint jedoch einleuchtend. Da wir nicht Gott sind, können wir nicht zu einer unbegrenzten Zahl von Menschen eine vertraute Beziehung pflegen. Visualisiert sähe unser soziales Umfeld aus wie ein Trichter, bei dem immer weniger Menschen Platz finden, je tiefer es ins Herz geht. Das trifft grundsätzlich auf jeden Menschen zu: vom beliebtesten Schauspieler bis hin zum Einsiedlermönch. Das Phänomen können wir sogar bei Jesus beobachten: Die Massen der Zuhörer waren abgegrenzt von der Zahl seiner Jünger, die mit 70 beziffert wird. Der engere Kreis besteht aus zwölf. Die dunkelste Stunde seines Lebens teilen nur drei von ihnen mit ihm, nicht mehr. Wir kennen die Ereignisse aus Gethsemane nur aus ihren Berichten. Auch von einem Lieblingsjünger ist die Rede.

„Jesus hat mit uns noch viel zu tun, bis wir seinem Ebenbild gleichen. In der Zwischenzeit bleiben neue Beziehungen eine echte Herausforderung – auch in der Gemeinde.“

Jeder hat einen Beziehungstrichter. Das geht den Menschen in deiner Gemeinde nicht anders. Natürlich ist dieser zeitweise dehnbar, aber nicht dauerhaft. Wenn auf der tieferen Ebene jemand dazukommt, muss mittelfristig ein anderer weg. Ich erinnere mich an meine Zeit während der Gemeindegründung: Es baute sich ein Jugendkreis auf, und in der kleinen Gemeinde kamen Menschen zum Glauben. Ich aber merkte, dass ich den Kontakt zu meinen Freunden aus der Heimatgemeinde weitestgehend eingestellt hatte. Die Konzentration auf die Menschen vor Ort hatte natürliche Konsequenzen. Die Grenzen der Zeit für die Beziehungspflege und die Grenze für soziale Interaktion führten zu einem Wechsel meines Freundeskreises.

3. Wir alle haben einen nicht erlösten Hintergrund
Der dritte Grund ist der Hauptpunkt. Er betrifft unseren Hintergrund, unsere verdorbene DNA der sozialen Interaktion. In einer dramatischen Beschreibung des Menschen schreibt Paulus an Titus: „Denn auch wir waren einst unverständig, ungehorsam, gingen in die Irre, dienten mannigfachen Lüsten und Vergnügungen, lebten in Bosheit und Neid, verhaßt und einander hassend“ (Tit 3,3). Selbst wenn wir eine ordentliche Erziehung genossen haben und in einem anständigen Viertel aufgewachsen sind: Unsere Hinwendung zum Anderen ist durchdrungen vom Wunsch, mehr zu bekommen, als zu geben. Unser Weg in die Gemeinde führt nicht aus Eden, sondern aus der Welt vor ihren Toren. Diese Welt hat unser Denken, Wollen und Fühlen komplett eingenommen, und mit dieser Prägung kommt jeder von uns in die Gemeinde. Und seien wir ehrlich: Die wenigsten von uns haben Beliebtheitswettbewerbe gewonnen, bevor wir zu Jesus umgekehrt sind. Wir sind schwierig. Wir haben Ansprüche. Wir klagen. Wir fordern. Jesus hat mit uns noch viel zu tun, bis wir seinem Ebenbild gleichen. In der Zwischenzeit bleiben neue Beziehungen eine echte Herausforderung – auch in der Gemeinde.

Warum tiefe Beziehungen mehr Chancen haben, als du befürchtest

Ich lade dich nun ein, aus der Perspektive des Evangeliums folgende Anregungen für einen Umgang mit deiner Sehnsucht nach Freundschaft angesichts der oben beschriebenen Realität in Erwägung zu ziehen.

1. Erlöst als Brüder und Schwestern
Wenn die Bibel das Thema der Freundschaft nicht so intensiv behandelt, können wir daraus eine Lektion ableiten: Gott bevorzugt es anscheinend, in anderen Kategorien zu denken. Weil er unser Schöpfer und Erlöser ist, sollten wir ihm gerade deswegen genau zuhören. Zunächst einmal ist es für ihn das Wichtigste überhaupt, eine Freundschaft zur Welt aufzugeben: „Ihr Ehebrecher und Ehebrecherinnen, wißt ihr nicht, daß die Freundschaft mit der Welt Feindschaft gegen Gott ist? Wer also ein Freund der Welt sein will, der macht sich zum Feind Gottes!“ (Jak 4,4). Die Identität, die du bekommen hast, als du der Welt den Rücken zugekehrt hast, ist aber genau genommen nicht Freundschaft. Sie besteht vielmehr in einer neuen Zugehörigkeit als Bürger des Himmels im Volk Gottes und als Mitglied in Gottes Familie:

„Denn dank Jesus Christus haben wir alle – Juden wie Nichtjuden – durch ein und denselben Geist freien Zutritt zum Vater. Ihr seid jetzt also nicht länger Fremde ohne Bürgerrecht, sondern seid – zusammen mit allen anderen, die zu seinem heiligen Volk gehören – Bürger des Himmels; ihr gehört zu Gottes Haus, zu Gottes Familie.“ (Epheser 2,18–19, NGÜ)

Der wahrgenommene Mangel einer Freundschaft benötigt die Perspektive dieser Identität: Ich bin ein Kind Gottes, das zu Gottes Volk gehört. Völlig egal, wie meine Beziehungen sich gerade anfühlen. Gott hat mich nicht zu einem riesigen Freundeskreis hin erlöst, sondern zu einem Volk, zu einer Familie. Mag sein, dass ich Freundschaften gerade sehr vermisse; aber auf eine Familie und den himmlischen Pass mit all seinen Privilegien in Christus muss ich nicht verzichten.

2. Fokus auf Wahrheit in Liebe
Es ist eben genau so: Die Bibel lehrt nicht, dass wir untereinander Freunde sein sollen. Sie beschreibt uns als Geschwister, die vor dem Angesicht des Vaters in der Gegenwart des Heiligen Geistes Beziehungen leben. Wir sind Brüder und Schwestern, die einander helfen, seinem Sohn Jesus ähnlicher zu werden, unserem großen Bruder. In unseren konkreten Ortsgemeinden fordert uns das heraus. Wir können uns nicht in unsere Gruppen oder Ecken zurückziehen, wenn wir schwierige Erfahrungen mit anderen machen. Vielmehr üben wir uns darin, den anderen zu lieben und ehrlich zu sein. Wir gehen in den Gottesdienst, zum Gebetstreffen, in die Dienstgruppe und den Hauskreis. Was wir dabei an Gemeinschaft bekommen, das nehmen wir dankbar an. Was wir selbst geben können, teilen wir gern mit den anderen. Das Defizit an Vertrautheit, das uns dabei noch fehlt, packen wir in ein Gebet an unseren himmlischen Vater.

„Gott hat mich nicht zu einem riesigen Freundeskreis hin erlöst, sondern zu einem Volk, zu einer Familie.“

Es könnte sehr helfen, von den hohen Ansprüchen und Erwartungen einer Freundschaft abzurücken, und einfach Beziehungen mit anderen Brüdern und Schwestern als Mitglied in Gottes Familie zu leben. Wenn wir uns unnachgiebig in Liebe und Wahrheit üben, auf andere zugehen, sie beachten, ein ermutigendes Lob weitergeben, nach dem Krankheitsstand des Familienangehörigen erkundigen, bei Verletzungen liebevoll konfrontieren, bereitwillig vergeben. Wenn wir dabei selbst lernen, Fehler zuzugeben und um Vergebung zu bitten, einer Opferrolle keinen Raum im Herzen geben. Wenn wir uns darin üben, das Beste vom anderen zu denken und anzunehmen, was zu seinen Gunsten spricht – dann wird es die Beziehungen zu den Menschen in der Gemeinde unweigerlich vertiefen. Vielleicht ist dies noch keine Freundschaft, wie wir sie uns wünschen, aber wer weiß? Vielleicht kommt der Zeitpunkt, an dem zwei voneinander sagen würden: „Wir sind Freunde geworden.“ Tragisch ist hingegen die Haltung „Entweder Freundschaft oder gar nichts!“, denn fordernde Menschen bekommen nicht nur keinen Freund, sondern verlieren im schlimmsten Fall auch noch ihre geistliche Familie. Dagegen hilft echte Dankbarkeit für die Gemeinde und für die realen Beziehungen, wie Gott sie mir gerade schenkt.

3. Es müssen nicht die Beliebten sein
Zum Schluss möchte ich noch einmal ehrlich nachfragen: Nach welchen Kriterien suchst du potenzielle Freunde aus? Es ist nur natürlich, sich nach den Menschen auszustrecken, die aus bestimmten Gründen attraktiv für eine Freundschaftsbeziehung sind. Vielleicht haben sie Einfluss in der Gemeinde oder veranstalten interessante Aktivitäten. Vielleicht sind es einfach nur sehr sympathische Menschen, in deren Nähe man gern wäre und mit denen man sich eine intensivere Beziehung vorstellen kann. Das denken erwartungsgemäß auch andere in der Gemeinde, und so könnte deren Beziehungstrichter (der naturgemäß von beschränkter Größe ist) schon mehr als gut gefüllt sein. Oft sehen sie sich einem größeren Erwartungsdruck gegenüber, jemandes Freund sein zu müssen. Dieser führt eher zu mehr Abstand als zu einer neuen, guten Beziehung.

„Lebe dabei das aus, was du von anderen erwartest und gib, was du dir erhoffst: Aufmerksamkeit, Wertschätzung, Ehrlichkeit, Rückmeldung, Zeit und Kraft.“

Dieser Fokus lässt uns großartige Gelegenheiten für wirklich gute Beziehungen verpassen. Der Wunsch, mehr von einer Beziehung zu profitieren, als zu geben, ist nicht nur ein Relikt aus der Welt ohne Gott, sondern er führt in eine Sackgasse. Er unterschätzt das große Potenzial von Liebe und Wahrheit in Geschwistern, die weniger stark in Erscheinung treten, aber eine umso wertvollere Rolle in deinem Leben spielen könnten. Lebe dabei das aus, was du von anderen erwartest und gib, was du dir erhoffst: Aufmerksamkeit, Wertschätzung, Ehrlichkeit, Rückmeldung, Zeit und Kraft.

Natürlich ist hier eine ganze Menge von Dingen nicht gesagt worden, die man hätte ansprechen können. Beziehungen und besonders Freundschaften sind eben ein sensibler Punkt in unserem Leben. Ich hoffe aber, dass einige aufgezeigte Facetten des Evangeliums eine frische und ermutigende Perspektive für Beziehungen eröffnen und die Menschen deiner Gemeinde durch deine Liebe und Wahrheit gesegnet werden. Vielleicht auch als deine Freunde.


Andreas Dück ist Pastor in der Freien Kirchengemeinde Warendorf. Er hat am Martin Bucer Seminar studiert und ist mit Sofia verheiratet. Dieser Artikel erschien zuerst auf Evanglium21.net. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung.